Sizilien, genauer gesagt Südostsizilien ist kein gefälliges Urlaubsland. Es ist nicht aufgeräumt und deutsch wie Südtirol, nicht smart und pittoresk wie die Toskana, nicht hergerichtet und auf keinen Fall touristisch aufgepeppt wie Venetien. Südostsizilien ist ursprünglich, kurvig und kantig, rauh und sanft zugleich. Es gibt Straßen voller Müll und Dreck. Weite Felder übersät mit zerfetzten Plastikplanen, die nach der letzten Ernte einfach liegen gelassen wurden oder weil dort schon lange niemand mehr Gemüse anbaut. Es gibt Häuser, die ihr Richtfest gar nicht erst erlebt haben oder Häuser, die seit Jahren leerstehen, Ruinen gleichen, so dass man beim besten Willen nicht mehr von morbidem Charme sprechen kann.
Und trotzdem: Südostsizilien hat Charisma. Es ist authentisch, exotisch, kunstsinnig. Es ist bunt wie die Fischerboote in Marzamemi oder Portopalo di Capo Passero, grün wie der Feigenkaktus, rot wie der Hibiskus oder die Bouganville, blau wie das Meer und honiggelb wie der sizilianische Barock. Es betört mit seinen Düften nach Oleander, wildem Fenchel, Rosmarin, Minze, Salbei und Thymian.
Südostsizilien hat ein bewegtes Leben. Alles war mal irgendetwas und ist jetzt etwas anderes. Siracusa zum Beispiel war mal griechische Kolonie, als die Griechen verschwanden, blieben die Sagen, die Säulen, die griechischen Theater. Nirgendwo sonst haben die Baumeister des Barocks schönere Paläste und Kirchen errichtet als im Südosten der Insel. Das gewaltige Erdbeben vom 9. Januar 1693 hatte zur Folge, dass Städte wie Avola, Noto, Ragusa, Modica und Grammichele komplett neu am Reißbrett nach geometrischen Mustern - Prinzipien barocker Stadtplanung - entworfen wurden. Es dauerte nur wenige Jahrzehnte und sie erstrahlten im neuen Glanz, teils an der gleichen Stelle, teils entfernt von ihrer einst zerstörten Stadtanlage. Nirgendwo sonst gibt es den für die Region typischen weißen Kalkstein der Monti Iblei, aus dem genau diese Städte gebaut sind und der ein Sonnenlicht reflektiert, das es so nur hier im Südosten gibt.
Jeder muss seine eigenen Erfahrungen machen, muss Südostsizilien auf seine Art und Weise kennenlernen, erleben und ... wiederkommen.
Dann kommt die Liebe von ganz alleine.
Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn,
Im dunkeln Laub die Goldorangen glühn,
Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,
Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht?
Kennst du es wohl? Dahin!
Dahin möcht' ich mit dir,
O mein Geliebter, ziehn."
Johann Wolfgang Goethe